Bettagsmandat 2022: Besinnung auf die eigenen Kräfte – Kanton Glarus

2022-09-18 17:40:24 By : Mr. MingKang Jiang

Regierungsrat des Kantons Glarus • Zum Dank-, Buss- und Bettag macht sich der Glarner Regierungsrat darüber Gedanken, worauf sich die Glarner Bevölkerung angesichts einschneidender Weltereignisse besinnen könnte.

Entspannt blickte das Glarnerland zu Jahresbeginn ins neue Jahr. Nach zwei Pandemiejahren hatte das Corona-Virus weitgehend seinen Schrecken verloren. Die Wirtschaft brummte. Die Börse erreichte Ende 2021 Höchstwerte und die Prognosen waren vorsichtig positiv. Allenthalben freute man sich wieder auf ein «normales» Jahr. Doch diese Zuversicht wurde jäh durch den Einmarsch von russischen Truppen in die Ukraine gestoppt. Der grausame Krieg des Moskauer Despoten gegen das Brudervolk in der Ukraine hat schon eine grosse Zahl Opfer in der Zivilbevölkerung gefordert. Tausende weitere junge Menschen, die in der Ost- und Süd-Ukraine gegeneinander kämpften, liessen sinnlos ihr Leben. Das überwunden geglaubte Gespenst des Krieges ist wieder in Europa angekommen. Und das in einer Zeit, in der es genügend zu tun gäbe, um einen drohenden ökologischen Kollaps abzuwenden.

Nach der Pandemie hat nun der Krieg ein zweites Mal global organisierte Lieferketten unterbrochen. Nahrungsmittel und Energie verteuern sich massiv: Gibt es im nächsten Winter genügend Gas, Strom und Brot? Auch andere Produkte sind nur noch teurer und mit Lieferfristen erhältlich. Börse und Bitcoin sind eingebrochen, die totgeglaubte Inflation ist zurück, die Zinsen steigen.

Auch wenn die ganze Welt wieder einmal auf dem falschen Fuss erwischt wurde, so sind die Schweiz und der Kanton Glarus in einer komfortableren Lage als die meisten anderen Länder. Unser Land kann eine grosse Anzahl Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen. Die Nationalbank kann erfolgreich die Inflation bekämpfen. Sie wird auch in der Lage sein, die sich im ersten Halbjahr abzeichnenden Riesenverluste zu verkraften.

Diese wenigen Beispiele zeigen schon, dass unsere Gemeinschaft grosse Herausforderungen meistern kann. Notwendig ist jedoch eine vermehrte Rückbesinnung auf eigene Fähigkeiten und Ressourcen. Sparen und schonender Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nützen allein noch nichts. Jetzt sind Innovationskraft, unbürokratische Lösungen, der Wille jedes einzelnen wieder gefragt. Wirtschaft, Staat, Gesellschaft – und ja, jeder einzelne sind nun gefordert, gemeinsam neue Wege zu finden und auch zu gehen.

Der Philosoph Karl Marx denkt: Religion vertröstet Menschen – im Jenseits wird es ihnen gut gehen. Religion versähe das menschliche Jammertal mit einem Heiligenschein. Marx liegt mit seiner Sicht jedoch falsch. Ziel ist nicht die Kompensation im Himmel, sondern die Änderung der Verhältnisse auf Erden. Christliches Wirklichkeitsverständnis ist nah am Ursinn des Wortes Wirklichkeit: Werk, Wirken, Wirbel, «Irrsal und Wirrsal» (wie Martin Buber die Anfangswirklichkeit der Schöpfung, das Tohuwabohu, übersetzt). Alle Begriffe stammen aus derselben Wurzel und bildhaften Vorstellung. In dieses Gewirk sehen sich Christen hineinverwoben. Aber nicht stumpf und teilnahmslos, sondern engagiert und leidenschaftlich.

Veränderung und Vielfalt gehören seit den Anfängen der Kirche zu deren Essenz. Die Kirche setzte sich karitativ ein für Arme, in Schulen und Spitälern. Soziale Arbeit und Gruppen beschäftigten und unterstützten jene, die am Rande stehen. Zahlreiche Erneuerungsbewegungen setzen hier an und helfen, kreative Lösungen sowie Initiativen zu formulieren und politische Entscheidungsträger zu beraten.

Gefragt dabei ist Infrastruktur für Innovation, die nicht bloss auf Profitabilität, sondern auf den Werten von Kooperation und Solidarität beruht. Der Staat kann Vehikel sein für solche Reformen. Strukturen der Zivilgesellschaft wollen entwickelt werden. Der Anfang wahrer Erneuerung kommt nicht selten von unten, von Bürgern, von Gesellschaften, von Nachbarschaften. Alle kreativen Ideen, die so entwickelt werden, um den Alltag zu meistern, helfen weiter. «Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit», lautet ein zartes geistliches Wort. Der Bettag erinnert daran, die Wirklichkeit im Privaten, im Beruf und in der Öffentlichkeit zu umarmen – und sich von ihr umarmen zu lassen, auch wenn sie rau und abstossend ist.

Die einzige Konstante in Welt, Gesellschaft und Kirche ist der Wandel. Im Gegensatz zur Angst, dass mit jeder Neuerung die bekannte Ordnung zusammenbricht, stellt der Geist der Kreativität fest, dass Veränderung etwas Gutes sein kann. Mit Flexibilität, gutem Willen und im Miteinander ist viel mehr möglich, als der Einzelne zu denken bereit ist.

Um der Spur der natürlichen Begeisterung für den Mitmenschen folgen zu können, braucht es nicht viel. Eine einfache Begegnung mit dem eigenen Inneren kann bereits inspirieren und ermutigen. Alles, was wachsen will, braucht Zeit – und natürlich die Bereitschaft, sich weiterentwickeln zu wollen. Um die eigenen Kräfte (wieder)entdecken zu können, ist dieser wohlwollende Blick auf die eigene innere Haltung, Weltanschauung und Lebensphilosophie essenziell. Die Art und Weise, wie Dinge im Kleinen angegangen werden, bestimmen diese auch im Grossen.

Dieses Abenteuer der Entdeckung muss jeder selbst antreten. Als Reisebegleiter nebst den klassischen Tugenden aus Philosophie und Ethik, bieten sich ein froher Glaube und eine freundliche Gemeinschaft an. Um alle Herausforderungen der Welt zu bestehen, verfügt jeder Mensch über bestimmte Fähigkeiten, Befugnisse, Charismen und eine unverwechselbare Individualität. Im Bewusstsein dieser einzigartigen Ausrüstung kann der Optimierungszwang einer Leistungsgesellschaft getrost abgelegt werden. Im Vertrauen darauf, dass es dem Wesen des Menschen entspricht, über sich hinauszuwachsen, Bleibendes zu schaffen, liebenswert und nützlich zu sein, wäre angesichts der aktuellen Weltlage ein Paradigmenwechsel angezeigt: Vom «Was kann der andere für mich tun?» hin zu einem «Was kann ich für die anderen tun?». Eine erste Frucht bei der Besinnung auf die eigenen Kräfte.

Gemeinsam kann es gelingen, aus jeder noch so starren Organisation einen lebendigen Organismus entstehen zu lassen. Jeder in seinem Bereich und dennoch alle miteinander. Und zwar ganz einfach, wie es schon Erich Kästner auf den Punkt brachte: «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es».

Die ungewünschten Veränderungen der Welt – Pandemien, Krieg, Umweltzerstörung – dürfen uns nicht lähmen. Vielmehr sollen sie bewusst machen: Das Leben in einem so wunderbaren Land muss nachhaltig gesichert werden. Der Megatrend Globalisierung zeigt neben seinem Lächeln auch immer wieder seine hässliche Fratze. Um Unternehmensgewinne noch weiter zu optimieren, werden Produktionsstätten rigoros zentralisiert und in Länder verlagert, in denen «günstiger» produziert werden kann. Abhängigkeiten wachsen ständig, schon ein kleiner Unterbruch einer einzigen Lieferkette kann zu grossen Versorgungsengpässen führen. Die Havarie des Containerschiffes «Ever Given» zeigte exemplarisch auf, wie ein kleiner Unfall im Suezkanal den ganzen Welthandel empfindlich stören konnte. Bei starkem Wind hatte sich das fast 400 Meter lange Schiff quergestellt und blockierte so während Tagen die Schifffahrtsrinne für Hunderte von Schiffen.

Profitorientierung jedes einzelnen und ein darauf ausgerichtetes Handeln verstärken dies alles zusätzlich. Das individuelle Streben nach mehr Gewinn, mehr Dividende, mehr Geld kurbelt diesen Prozess ständig weiter an. Gesellschaft und Wirtschaft werden zunehmend verletzlicher. Der Globalisierungsprozess wird sich kaum rückgängig machen lassen, aber eine Orientierung an den eigenen Möglichkeiten vor Ort reduziert diese Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten zumindest etwas.

Eine Grundhaltung, in deren Mittelpunkt eigenverantwortliches Handeln und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben hier und jetzt stehen, würde helfen, eine von Begehrlichkeiten geprägte Neidkultur zu überwinden. Um die Zukunft meistern zu können, bedarf es der Veränderung. Zufriedenheit in einer neuen Bescheidenheit ist der Gradmesser des Erfolges, nicht nur am Bettag.

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